Wenn man aus den Tiefen der Pariser U-Bahn emporsteigt, fällt es schwer, sich vorzustellen, dass hier alles mit einer kleinen Siedlung unbeugsamer Gallier vom Stamm der Parisii begonnen hat. In Lutetia, wie die keltische Stadt damals hieß, kannte leider niemand das Rezept für den berühmten Zaubertrank. Deshalb fiel die Stadt trotz drastischer Maßnahmen – die Gallier zündeten sie selbst an – genau wie der Rest Galliens, in den 50er Jahren vor Christus an die Römer. Die Eroberer überließen den Galliern die Insel inmitten der Seine, die heutige Île de la Cité, und bauten am linken Seine-Ufer ihre antike Stadt, deren regelmäßig angeordnetes Straßennetz noch heute das Quartier Latin prägt.
Aber zurück zur Île de la Cité. Natürlich sind wir nicht gekommen, um nach gallischen Überresten zu suchen, sondern um uns eines der ältesten Pariser Wahrzeichen anzuschauen: Notre-Dame de Paris. Ihre heutige Anziehungskraft verdankt die Kathedrale vor allem Victor Hugos Roman und dessen zahlreichen Filmadaptionen unter dem Titel „Der Glöckner von Notre-Dame“. Dabei ist das Bauwerk auch unter anderen Gesichtspunkten interessant. Begonnen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, gehört Notre-Dame zu den ersten Gebäuden eines damals bahnbrechenden neuen Architekturstils – der Gotik.
Genau genommen begann der Bau im Jahr 1163 noch im damals vorherrschenden Stil der Romanik. Erst mit Baufortschritt flossen immer mehr gotische Elemente ein, bis von dem romanischen Ursprung nichts mehr zu erkennen war. In einer Ausstellung im hinteren Teil der Kirche erfahren wir mehr über die Entstehung dieses himmelstrebenden Gotteshauses.
Ich finde, man muss nicht gläubig sein, um beim Eintreten in das Hauptschiff von Notre-Dame in Staunen zu geraten. Die Pfeiler mit ihren verzierten Kapitellen, die spitz zulaufenden Bögen, das sanfte Licht, das durch die oberen Glasfenster fällt – alles lässt den Blick nach oben streben. Was hat die Menschen im Mittelalter dazu bewogen, eine solche Meisterleistung zu vollbringen?
Eine kleine geschichtliche Einordnung:
Der Bau von Notre-Dame und die Entwicklung der Gotik fielen in eine Zeit, in der der katholische Glaube der kulturelle Kitt des in viele kleine Herrschaftstümer zersplitterten Europas war. Dieser Kitt begann aber zu bröckeln. Erst schwächte der misslungene Zweite Kreuzzug, an dem auch der französische König Louis VII. teilgenommen hatte, das Ansehen der Kirche. Dann brach Streit über eine Papstwahl aus. 18 Jahre lang drohte das Seelenheil der Europäer im Machtkampf zwischen Papst Alexander III auf der einen Seite und Kaiser Friedrich Barbarossa und seinen Gegenpäpsten auf der anderen Seite zu zerreißen.
Für Louis VII., der in dieser Auseinandersetzung Alexander III. unterstützte, gab es außerdem noch eine weitere Gefahr, die viel näher lag. Der englische König Henry II aus dem Hause Plantagenet, zu dessen Erbe bereits das Herzogtum Normandie und die Grafschaft Anjou gehörten, heiratete Louis‘ Ex-Frau Éléonore d‘ Aquitaine. Damit schwang er sich zur stärksten Macht im Herrschaftsgebiet des französischen Königs auf. Umzingelt vom machthungrigen englischen König, unterstützte Louis eine Revolte seiner Söhne, unterlag Henrys Armee jedoch im Jahr 1173. Was diese Rückschläge wohl persönlich für den frommen Louis bedeuteten? Immerhin sah er sich als Herrscher von Gottes Gnaden. Wo war also Gott und konnte man ihn irgendwie besänftigen? Eine Frage, die sicherlich viele Menschen zur damaligen Zeit umtrieb.
Der politischen und religiösen Unsicherheit standen jedoch auch positive Entwicklungen gegenüber. Neue landwirtschaftliche Methoden und eine Klimaerwärmung brachten dem Land Wohlstand. Städte und Bürgertum befanden sich im Aufschwung, die Wissenschaft verlagerte sich von den Klöstern auf die Universitäten und es bildeten sich neue Berufsstände heraus. All das bot einen reichhaltigen Nährboden für Innovation und Kreativität.
Heutzutage ist Notre-Dame de Paris für viele Besucher nur ein altes Gemäuer, romantisch verklärt durch einen Roman aus dem 19. Jahrhundert. Aber zur Zeit ihres Baus stand die Kathedrale für den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Die Wirren des Frühmittelalters nach dem Fall des Römischen Reiches waren überwunden. In Europa hatte sich eine neue Ordnung, die Feudalgesellschaft, herausgebildet. Und mit der Entwicklung der Gotik setzten sich französische und später auch andere europäische Baumeister endgültig über das ästhetische Erbe der Antike hinweg.
Nach so viel Geschichte haben der Kleine Entdecker und ich uns erstmal ein Eis verdient. Wir schlendern zur Île Saint-Louis, die über eine kleine Brücke mit der Île de la Cité verbunden ist. Hier, in Quai de Béthune lebte Marie Curie von 1912 bis zu Ihrem Tod 1934. Nächstes Mal nehme ich Euch mit ins Musée Curie und erzähle Euch mehr über die großartige Wissenschaftlerin und die erste Frau, die einen Nobelpreis erhalten hat.
Mehr Tipps und Informationen für den Besuch von Notre-Dame de Paris findet Ihr bei Paris mal anders.
Categories: Architektur, Mittelalter, Paris
Wunderschöner Bericht. Danke dir.
Immer wieder gerne :-)
Wie schön, ich war noch nie in Paris, und kann nun doch ein wenig dort bummeln, staunen und lernen. LG, Anna
Vielleicht klappt es ja mal irgendwann. Es gibt wirklich viel Sehenswertes. Liebe Grüße, Peggy
Sehr schöne Führung, liebe Peggy : ) Wir haben uns übrigens kürzlich den Film über Marie Curie angesehen, der uns gut gefallen hat. Er befasst sich vor allem mit der Zeit zwischen ihren beiden Nobelpreisen, sehr interessant. Liebe Grüße
Petra
Danke, liebe Petra. Es gibt einen Film über Marie Curie? Das habe ich noch gar nicht mitbekommen. Muss ich mal schauen. Liebe Grüße zurück, Peggy
Noch relativ neu, von 2016, kuck: https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Curie_(Film)
Klingt wirklich gut. Danke für den Tipp 😀
Danke, liebe Peggy, fuer’s Mitnehmen auf diesen Rundgang.
Habt’s fein in Eurer neuen Heimat,
Pit
Danke, Du Lieber!
Gerne!
wie schön, wie informativ, vielen Dank für deine Ausführungen. In Paris war ich zuletzt 1979. As times goes by ….
Viele Grüße aus Freiburg
Achim
Das ist ja wirklich lange her! Und dabei habe ich mich schon alt gefühlt, als ich dem Kleinen Entdecker hin und wieder erzählte, “als ich vor 24 Jahren hier war, …” Obwohl Vieles natürlich gleich bleibt – Notre-Dame, Eiffelturm und Louvre stehen immer noch am selben Platz – fand ich, dass sich die Stadt zum Positiven verändert hat. Jetzt kann man auch in einer Mischung aus gebrochenem Französisch und Englisch in den Restaurants satt werden und wird nicht mehr vorwurfsvoll ob der mangelnden Sprachkenntnisse angeschaut. Von der Zuvorkommenheit und Freundlichkeit der Briten sind die Pariser aber noch ein Stück entfernt. Liebe Grüße, Peggy
Ja, überbordende Freundlichkeit werden die Franzosen wohl nie erreichen, verglichen mit den Brits :-)
Liebe Peggy, Paris war immer eine sehr spezielle Stadt für mich und ich bin auch dieses Mal sehr gerne mit dir dorthin gereist. Auch hat mich Éléonore d‘ Aquitaine immer begeistert, denn es schafft es doch nicht jedermann gleich zweimal Königin zu werden! Cari saluti Martina
Liebe Martina, ja auch ich habe einen speziellen Platz im Herzen für Paris. Ich war vor vielen Jahren schonmal dort und es hat mir Spaß gemacht, die Stadt nocheinmal mit meinem kleinen Sohn zu entdecken. Éléonore d‘ Aquitaine war in der Tat eine Frau mit einer faszinierenden Lebensgeschichte. Herzliche Grüße, Peggy
💐
Ein ganz wunderbarer Bericht mit wunderschönen Fotos. Ich mag Deine Impulse in den Texten, die zum Weiterstöbern einladen, Erinnerungen wecken und neugierig machen. Das Foto von der Deckenkonstruktion und auch das vom kleinen Entdeckerköpfchen über dem Eingang sind meine Lieblingsbilder in diesem Beitrag. Erfreulich auch Deine Anmerkung, dass die Französen offener werden, vor allem sprachlich. Das macht Mut und Lust, doch wieder mal hinzureisen. Danke Dir!
Ich danke zurück für Deine schönen Worte. Ich fürchte, als Mutter kann ich nie wiederstehen, das eine oder andere Kleiner-Entdecker-Foto einzubauen. :-) Die Deckenarchitektur finde ich auch immer wieder faszinierend. Wahnsinn, was die Menschen damals mit noch relativ primitiven Mitteln geschaffen haben. Ganz herzliche Grüße, Peggy